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Mein neues Leben begann mit dem Urschrei. Als ich das erste Mal nach Vater und Mutter schrie, fühlte ich mich wie ein Baby. Mein Atem war in den Bauch gefallen. Es war eine Wiedergeburt und Selbstfindung.
Ich wiederholte den Urschrei so oft, bis sich keine Reaktionen mehr zeigten. Gleich zu Beginn die Erkenntnis: Ich bin ein Mann und der weibliche Anteil in mir muß sterben.
Genau die Einleitung des Buches »Der Urschrei« von Arthur Janov hatte ich gelesen, als mir in den Sinn kam, es auch einmal auszuprobieren. Ich war ein bißchen aufgeregt, doch ich beruhigte mich, indem ich mir sagte, viel grausamer als in einem Traum vor ein paar Tagen, wo Strom durch meinen K�rper floß, könnte es wohl kaum werden.
Ich legte mich aufs Bett und fing an, nach Vater und Mutter zu schreien, zuerst zaghaft, dann schrie ich etwas mutiger: »Vati! Mutti!« und nochmals »Vati! Mutti!« Und mit einem Mal schrie es wie von selbst aus mir und so gewaltig, daß ich es nicht mehr zu kontrollieren vermochte: »Vati!!!! Mutti!!!!«, und zugleich stieß ich laute Schreie aus, die alle aus der Tiefe meines Inneren zu kommen schienen und ich fühlte Strom durch meinen Körper fließen, dessen Kraft meinen Körper aufbäumen und zusammenzucken ließ. Mein Denken war ausgeschaltet, ich fühlte mich wie ein Baby, das gerade erst durch die Geburt ins Freie gelangt war und jetzt nichts anderes machen konnte, als nur zu schreien. Je länger ich schrie, um so mehr schien es dem Baby Spaß zu machen, bis mein Schreien in eine Art Singen überging und von selbst aufhörte.
Das Ganze hatte höchstens fünf Minuten gedauert. Aber was war mit mir geschehen? - Ich mußte einfach lachen, so wahnsinnig gut fühlte ich mich danach. Kein Gedanke mehr daran, daß meine Freundin mich verletzt hatte. Mir wurde schlagartig bewußt, daß ich mich nur durch meine Schmerzen, die seit meiner Kindheit in mir gewesen waren, verletzt fühlen konnte. Jetzt, da ich sie alle herausgeschrien hatte, gab es keine Wunde mehr, die aufgerissen werden konnte. Die größte Veränderung war mein Atem, der in den Bauch gefallen war, und meine Stimme, die nach einer neuen, stählernen Selbstsicherheit klang. Als ich nach draußen ging, konnte ich an diesem Tage sogar wieder alles scharf sehen, obwohl ich sonst eine Brille brauchte.
Als Sonja am Abend zurückkam, merkte sie, daß etwas mit mir geschehen war. Ich erzählte ihr sofort mit Begeisterung, was ich ausprobiert hatte, ja ich führte es ihr ein zweites Mal vor. Ich legte mich wieder aufs Bett und fing an, nach Vater und Mutter zu schreien. Und wieder kam das gleiche Gefühl: Ich wähnte, ich sei ein Baby, das nichts anderes könne als nur schreien und dem das Schreien Spaß mache. Zuletzt konnte ich nicht mehr unterscheiden, ob es ein Schreien oder Singen war. Sonja sagte danach etwas bewundernd, daß ich noch nie so »frei und sagenhaft gut« gesungen hätte. Sicherlich hatte ich sie neugierig gemacht auf mein Erlebnis, denn sie wollte es ebenfalls ausprobieren.
So fuhren wir eines Abends an die Isar, zu einem Wasserfall, wo das Tosen und Rauschen die Stimmen schluckt und man sich nicht zu genieren braucht, einfach zu schreien. An diesem regnerischen Abend waren keine Leute unterwegs, wir waren vollkommen allein. Sonja entfernte sich ein Stück - sie wollte mich anscheinend nicht dabei haben. Aber da ich gespannt war, wie es bei ihr ablaufen würde, beobachtete ich aus kurzer Entfernung, wie sie sich ans Ufer setzte und tatsächlich nach ihrer Mutter zu schreien begann. Sie schrie dabei mit einer so hohen Stimme, wie ich sie bei ihr noch nie gehört hatte.
Jetzt kam bei mir wieder dieses eigenartige Gefühl, ebenfalls nach Vater und Mutter schreien zu müssen. Aber diesmal verlief es anders als bei den ersten Malen: Ich stand mit erhobenen Händen, und wie von selbst bog es mich immer weiter nach hinten - ganz langsam, immer weiter, und es tat überhaupt nicht weh. Das dauerte ein paar Minuten, bis auf einmal Sonja neben mir stand. Sie meinte, bei ihr habe das noch nicht richtig geklappt, sie müsse es nochmals probieren, denn sie habe nicht nach ihrem Vater rufen können.
In der Nacht erwachte ich aus folgenden Traum:
Ich rase wie wild die Treppen hinunter, ich überspringe mehrere Stufen. An der Wand hängen Bilder, an die ich anstoße. Da fällt eines zufällig herunter. Als ich das Bild anschaue, ist darauf eine alte Frau, die ein sonderbares Tier mit der Laterne anleuchtet. So ein Tier habe ich noch nie gesehen. Es ist grün und ein männliches Tier. Ich frage mich, wo das Weibchen dazu ist. Auf einmal sehe ich ein Buch, das jemand achtlos weggeworfen hat. Ich schlage es kurz auf und wieder zu. Es ist die Bibel in einem roten Einband. Außerdem liegt ein rotes Gesangbuch nicht weit davon entfernt. Die alte Frau sagt: »Das ist die Bibel.«Vor dem Urschrei hatte ich immer versucht, meine Freundin möglichst zufrieden zu stellen, das Beste für sie zu wollen. Ich merkte gar nicht, daß ich mich selbst belog, als ich für meine Freundin dachte. Ich bin nie die andere Person und kann nur das sagen, was ich empfinde. Der Traum sagt mir, daß ich mich nicht mehr in die Lage einer Frau hineinversetzen dürfe, denn das wäre die Leugnung meines eigenen männlichen Charakters, der für mich bestimmt ist. Deshalb ist die alte Frau ärgerlich, als ich wie früher versuche, den Teil einer Persönlichkeit anzunehmen, der mir gar nicht gehört, nämlich den weiblichen.